50 Jahre Volksfeinde. (Schaubühne)

Josefine T. sitzt im Bus M19 Richtung S Grunewald, also vielmehr hockt sie, eingequetscht zwischen einer Oma mit KaDeWe-Tüte und einem Anzugträger mit Alkoholfahne, hockt in diesem blöden Viererabteil im Untergeschoss, bei dem man nie den Stop-Knopf erreicht, also von diesem einen Platz am Fenster in Fahrtrichtung aus. Die Oma schnauft, Josefine guckt hektisch auf ihr Handy (ihr *****phone), Europa-Center einsteigen steht da, Lehniner Platz/Schaubühne aussteigen, neun Minuten soll das dauern, eigentlich, aber jetzt steht der Bus irgendwo auf dem KuDamm an einer Ampel, seit gefühlt fünf Minuten passiert absolut überhaupt nichts und sie fragt sich, ob sie da jetzt was aufaddieren muss auf diese 9 Minuten oder ob die BVG das einkalkuliert mit den Ampeln da auf dem KuDamm im Feierabendverkehr. Wenn sie nämlich weiß, wie lang die Fahrt dauert, kann sie Fahrzeit minus eine Minute rechnen und rechtzeitig mit dem Aufstehen-und-Richtung-Stop-Knopf-Boxen beginnen. Gottohgott.

Volksfeind-Impression I © tAMtAM berlin

Der KuDamm ist, wie alle guten Ausfallstraßen des Grunewalds, gepflastert mit tempelähnlichen Botschaftsgebäuden der Institutionen Dior, Louis Vuitton, Edeka, Back-Factory, Tommy Hilfiger, Dior, Louis Vuitton, Edeka, Back-Factory, Tommy Hilfiger, Dior, Louis Vuitton, Edeka, Back-Factory, Tommy Hilfiger, Dior, Louis Vuitton, Edeka, Back-Factory, Tommy Hilfiger. Edeka.
Jetzt tuckert der Bus los, Josefine guckt raus, guckt auf ihr Handy, guckt raus, und JA – es ist ein Loop. Der berühmte KuDamm-Loop. Man bewegt sich vorwärts und alles sieht dennoch immer gleich aus. Wie viele Menschen haben wohl schon dieses Phänomen beobachtet, seit die Schaubühne 1981 vom Halleschen Ufer an die oberhinterste Ecke, an die Schmerzgrenze von Westberlin gezogen ist?

Fragt sich Josefine und beginnt vorsorglich zu boxen, einfach so, schon nach sieben Minuten, ist auch egal jetzt. Vor zwei Wochen hat sie das nämlich total verplant, nicht mit dem Boxen jetzt, sondern mit dem Aufstehen, da war sie so müde und gleichzeitig so beschäftigt mit diesem einen Knopf an ihrem Portemonnaie, der immer so stressig nicht zugehen will, und da hat sie total vergessen auf ihr Handy zu achten und auf die Zeit und ist mal eben auf dem KuDamm-Loop hängengeblieben, ja nachgerade auf dem KuDamm-Loop versackt, und die Haltestelle nach der Schaubühne heißt Kurfürstendamm/J.-Friedrich-Straße. Das ist 400 Meter noch weiter im Westen. Da war die Schmerzgrenze definitiv überschritten. Hätte sie nicht die Karte gehabt für das neue Stück von diesem Schaubühnen-Typen, dem Wie-heißt-er-nochmal?-achja-Thomas-Ostermeier, sie wäre einfach NOCH eine Station weitergefahren, bis zum Ring nämlich, da kann man einfach die Augen zu zwei Dritteln zukneifen und in die Bahn rennen. Merkt man fast nichts vom spießigen Grunewald.

Volksfeind-Impression II © tAMtAM berlin

Egal, sie hat aber ja diese Karte gehabt und der Volksfeind, dieses Stück von Ibsen, das sie eigentlich immer ziemlich oll fand, war dann wirklich ganz gut eigentlich. Die haben nämlich ganz normal geredet, das fand sie ziemlich komisch, hat dann extra nochmal bei “Projekt Gutenberg” in den Text geguckt hinterher (auf dem Handy) und der war tatsächlich so oll, wie sie das in der 9. Klasse schon empfand.
Aber die Schauspieler haben sogar Musik gemacht auf der Bühne, haben irgendwelche Popsongs gecovert, einen hat sie tatsächlich erkannt, leider fällt ihr der Interpret jetzt nicht mehr ein, geht ihr meistens so nach ein paar Tagen, aber in dem Moment da im Theater hat sie das Lied erkannt und das ist ja wohl das, was zählt.
Die Oma neben ihr (eine andere als die jetzt im Bus) begann plötzlich, einfach in den Raum zu labern. Dass Lars Eidinger ja nicht mitspielt und deshalb diesmal wohl keine Nackten auf der Bühne sein würden. Das war vor der Vorstellung, als das Licht im Saal noch an war, und die Oma klang sehr befriedigt bei ihrer Bemerkung. Josefine wusste nicht so recht, wie sie mit dieser Information umgehen sollte. Ihr ist das relativ rille, ob Lars Eidinger (nackig) da ist oder nicht, aber der Oma würde es sicherlich gut tun, mal wieder einen nackten Arsch zu sehen, und selbst wenn es nur der Arsch von Lars Eidinger ist. Dass ja jetzt dieser andere Schauspieler spielt, dieser eine da, sagte die Oma, wissen Sie, wie der heißt?
Nein, sagte Josefine, sie vergisst das leider immer und lügt dabei, denn eigentlich wusste sie noch nie den Namen von diesem Schauspieler, will ihn gar nicht wissen, weil sie irgendwann mal beschlossen hat, dass er der ist, der ein bisschen einen Blick hat wie ein Opossum.
Der Opossum-Schauspieler spielt Stockmann, den Volksfeind, und er macht das wirklich ziemlich gut. Irgendwann hält er eine Rede und da wird plötzlich das Publikum mit einbezogen und soll auch was sagen, aber alle kichern nur verlegen, bis eine dauergewellte Fünfzigjährige beginnt, mit einem der Schauspieler über einen fiktiven Inhalt des Stücks zu diskutieren, statt das mal so auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene zu abstrahieren. Der eigentliche Einbezug des Publikums findet dann in Form von Farbbeuteln statt, die eigentlich auf Opossum-Stockmann klatschen sollen, aber offenbar ziemlich empfindlich die 43-Euro-Premium-Plätze in der ersten Reihe tangieren. Josefine weiß aus sicheren Schaubühnen-Interna, dass sich da ein paar Leute im Nachhinein beschwert haben, wegen der Farbe auf dem feinen Zwirn und so, fanden sie wohl nicht so gut.

Volksfeind-Impression III © tAMtAM berlin

Passiert halt, wenn man sich mit den Volksfeinden einlässt, denkt Josefine und windet sich um den dicken Vierzehnjährigen herum Richtung Bus-Schiebetüre. Überall, wo -bühne dranhängt, wird es gefährlich für Spießer. Ihre Alarmglocken gehen normalerweise an, wenn irgendwo ein Volks- erklingt. Volksküche. Volkswagen. VOLKSBÜHNE. Und dann meiden sie diesen Castorf, fahren in den tiefsten Westen und Zack – knallt man ihnen in der SchauBÜHNE einen Farbbeutel vor den Latz.
Würd ich mich auch aufregen, wenn ich Spießer wär, denkt sich Josefine, und steht schon wieder vor dem 20er-Jahre-Rundbau. Heute ist Jubiläum. 50 Jahre Schaubühne. Josefine will sich das dann irgendwie doch nicht entgehen lassen, den möglichen historischen Moment nicht verpassen und so. Nach der wirklich gar nicht mal so trockenen Jubiläums-Veranstaltung kommt an diesem 21. September 2012 zum gefühlten 6000. Mal eine Hamlet-Vorstellung – diese Inszenierung von Den-hatten-wir-doch-eben…-achja-Thomas-Ostermeier. Mit Lars Eidinger. (Er ist – auch – nackt.)

Nach allerlei (Nicht-)Gratiskram, Gerede, glücklichem Schulterklopfen und einem Erde-fressenden Eidinger wird bei viel viel lauter Musik gequatscht. Zwischen den Leuten rennt ein Kerl herum, der behauptet, für irgendein Blog zu arbeiten, so ein Kulturdings mit einem abseitigen Namen, Trara oder so, und der einigen Leuten die wohl absolut vorhersehbarste Frage stellt, die man an einem solchen Abend stellen kann:

Was bedeuten 50 Jahre Schaubühne für Sie?

ANTWORTEN (kein Fake!!)

Ulrich Hoppe (Schaubühnen-Schauspieler):
Ich wollte immer nur DA hin!!

Falk Richter (Regisseur):
Mein Zuhause.

Paul Tischler (Verlags-Geschäftsführer):
Welttheatergeschichte.

Maren Kumpe (Promoterin):
Für mich ist die Schaubühne ein Zuhause geworden, eine geistige Heimat.

Jule Böwe (Schaubühnen-Schauspielerin):
Herzlichen Glückwunsch!

Mehdi Maradpour (Wer war das gleich?):
50 Jahre Wille, 50 Jahre die Hervorhebung dessen, was für unmöglich gehalten wurde: “Keine Zukunft ohne Vergangenheit.” (Zitat von Heiner Müller)

 

Josefine wurde natürlich nicht gefragt von dem Typen.  Vielleicht, weil die Schaubühne doppelt so alt wie sie selbst ist, also genau genommen ist sie 2,083333333333333mal so alt.
Für Josefine ist dieses Theater sowas wie der Wilde Westen. Den kennt sie auch nur aus Erzählungen über alte TV-Serien, aber sie zieht immer ihre Cowboy-Stiefel an, wenn sie hinfährt und schminkt sich ihre Lippen rot. Dann fühlt sie sich irgendwie so.. besonders anders. Und gleichzeitig total gleich mit den anderen Schaubühnen-Mädels, die genau so alt sind wie sie und auch Cowboy-Stiefel tragen oder diese hippen Bergstiefel mit Absatz.
Dieses Gefühl würde sie sicher vermissen, dieses Anderssein in der Sicherheit von Charlottenburg.

Herzlichen Glückwunsch, liebe Schaubühne.

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