Wäre die Geschichte der Oper eine Baustelle, hätte sie bei Monteverdis L’Orfeo in etwa so ausgesehen:
Die Baustelle Oper kurz nach ihrer Grundsteinlegung – dominiert von den Herren Monteverdi und Peri, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts mit der Monodie die eigenständig singenden Figuren erfanden. Der Horror von vierunddreißigstimmigen Madrigalen war überwunden, zumindest taten Monteverdi und seine Kollegen so und die Musikgeschichte bestätigte sie, indem sie Werke wie Dafne oder den Orfeo bewahrte, während sie andere musikdramatische Versuche im Madrigal-Stil unter den Tisch fallen ließ.
In der Komischen Oper Berlin heißt Orfeo natürlich Orpheus und wird vollständig auf deutsch gesungen. (Einige Touristen drücken hektisch auf der in den Sitz des jeweiligen Vordermanns eingebauten Übersetzungsmaschine herum.) tAMtAM hockt in der Wiederaufnahme der Inszenierung von Barrie Kosky, die bereits 2012 im Zuge von Koskys Monteverdi-Trilogie herauskam und die man inszenierungstechnisch prompt an einigen Stellen niedergemeckert hat (“Die Orpheus-Show”).
Das Werk wurde von der Komponistin Elena Kats-Chernin neu instrumentiert, sie arbeitet dabei mit “einer Mischung aus Ungarn und Nahem Osten, mit Bandoneon, Akkordeon, Cimbalom und Djoze.” Die Mischung wirkt exotisch, macht aber irgendwie Sinn: Nicht nur die ungarische Folklore basiert auf Improvisation, auch die Generalbass-Musik lebte vom spontanen Zusammenspiel über ein fixiertes Gerüst von Akkorden. Ob es an dieser Pseudo-Verwandtschaft liegt oder Frau Kats-Chernin einfach ein glückliches Händchen hatte – die hinzugefügten Instrumente verleihen der Musik eine fast unwirkliche Melancholie und machen sie vielleicht noch ehrlicher, als sie sowieso schon ist.
Orpheus und Eurydike werden wechselweise gedoppelt: Puppenspieler Frank Soehnle spielt Orpheus als überlebensgroße, abgehärmte Figur, Eurydike im weißen Kleidchen als fliegende Marionette. Sein Mitwirken ist insofern ein guter Einfall, als dass das Bühnenbild (alles, was die Komische Oper an Grünzeug noch im Fundus hatte), sich denkbar schlecht umbauen lässt und die Puppen die Aufmerksamkeit der Zuschauer fesseln, wenn das Inventar streng genommen eigentlich gar nicht mehr zu den Szenen passt.
Der Chor nimmt eine ähnliche Funktion ein: Entweder er ist Stimmungsmacher (dann platziert er sich vornehmlich im großen Kreis hinter den Zuschauern im Parkett) oder er ist Verdecker (wenn man zum Beispiel auf der Bühne eine Marionette umstöpseln muss). Aus diesem Grund wurde wohl auch eine Crew von Tänzern engagiert, sie wirkt aber angesichts des gefühlt 200-köpfigen Chores irgendwie überflüssig. Wahrscheinlich auch, weil sie im Prinzip immer dasselbe tut: Hopsend tanzen, ob in Arkadien oder in der Unterwelt.
Die Sänger schließlich sind einfach nur großartig. tAMtAM hat seit langem keine solch beeindruckende Leistung gesehen, wie sie Dominik Köninger (Orpheus) an diesem Abend vollbracht hat: Mit Eurydike auf den Schultern gut singen; mit den Tänzern hopsen und gut singen; ins Wasser fallen und weitersingen; 1m vor der ersten Reihe stehen, schwitzen, singen und nicht darum bemüht sein, gut auszusehen.
Sowas findet tAMtAM wirklich bewundernswert und bemerkt hier den fundamentalen Unterschied zwischen Sprechtheater und Oper: Selbst wenn in letzterer die Inszenierung eine Gurke ist, kann die Musik den Abend retten.