Video im Theater – wie macht man das und warum überhaupt. Dynamischer wird dadurch in erster Linie der Puls des Inspizienten, während Techniker sich auf der Seitenbühne durch gigantische Kabelknäuel kämpfen und das projizierte Filmchen leise flackernd in der blauen Beamer-Anzeige ertrinkt.
tAMtAM sieht die beiden letzten Inszenierungen von Katie Mitchell an der Schaubühne – FRÄULEIN JULIE und DIE GELBE TAPETE – und versteht plötzlich, weshalb man den Kampf gegen irrationale Technik trotzdem auf sich nehmen muss: Weil Video, wenn es auf der Bühne zu Film wird, eine Ebene schafft, die man mit klassischen Theatermitteln allein tatsächlich nicht herstellen kann. In beiden Inszenierungen entsteht der projizierte Film durch ein Team von Kameraleuten, Synchronsprechern und Sounddesignern live (und vollkommen geräuschlos) auf der Bühne. Als Zuschauer kann man beiden Handlungsebenen folgen, der theatralen Darstellung ebenso wie der Geschichte, die der Film fast ausschließlich in Nahaufnahmen erzählt. Nähe und gleichzeitig Distanz zur Figur – klingt paradox, funktioniert aber. Man taucht in das Innenleben der Hauptfigur ein, ohne dabei die Realität der Nebenrollen komplett ausblenden zu müssen.
Als Katie Mitchells neueste Schaubühnen-Arbeit ATMEN am 2. Dezember Premiere hat, fragt sich tAMtAM bereits Tage vorher, wie das bei diesem Stück mit dem Film ablaufen soll. Immerhin gibt es reichliche Ortswechsel, zwei Hauptfiguren und allerlei Zeitsprünge, die man bei aller Liebe zum Experimentalfilm ja nicht vollkommen übergehen kann.
In dem Theaterstück von Duncan Macmillan geht es grob gesagt um folgende Konstellation:
Vor Beginn der Vorstellung verteilt der Abenddienst der Schaubühne Handzettel ans Publikum: Der gesamte Strom in der Aufführung wird von den beiden Schauspielern plus vier Statisten auf extra hierfür entwickelten Fahrrädern erzeugt.
Oh oh, denkt sich tAMtAM, das wird aber heikel mit den sechs Kameras.
Im Saal ist nur die Notbeleuchtung eingeschaltet und man hört ein eigentümlich sirrendes Geräusch. Jemand zieht den Vorhang zur Seite (selbstverständlich von Hand) und dem Publikum bietet sich folgende szenische Anordnung:
Das Geräusch stammt von den Rädern; Kameras gibt es keine, dafür eine Dame hinter einem Mischpult, die die Aussteuerung der Mikros regelt. Die beiden Schauspieler steigen in die erste Szene ein (spielt bei Ikea an der Kasse), ihre physischen Gestaltungsmöglichkeiten bestehen in der Regulierung der Nähe zum Mikrofon und der Intensität des Abstrampelns. Trinken können sie nur, wenn der andere einen längeren Textabschnitt hat. (Die Inszenierung dauert etwa 75 Minuten.) Der Rest ist Stimme.
Während der ersten 10 Minuten ertappt tAMtAM sich gelegentlich dabei, über eine szenische Entwicklung nachzudenken. Vielleicht könnte einer der Statisten mit dem Strampeln aufhören (nein) oder einer der Schauspieler (jein); jemand könnte doch noch die Lichtanlage einschalten (nein) oder sich plötzlich durch den Raum bewegen (haha).
Was erst mal nach einem ziemlich übermächtigen Konzept klingt, ist im Grunde einfach nur sehr konsequent. Wie kann man ein Stück inszenieren, in dem es um die Schuld geht, Ressourcen zu verschwenden und auf Kosten anderer zu leben, wenn man für dieses Stück an einem Abend mal eben 460 Wattstunden Energie rausballert? Wäre das nicht ähnlich verlogen wie ein CO2-Zertifikat, diese moderne Variante des mittelalterlichen Ablassbriefs?
Am Schluss bleiben der Text und die Fantasie des Zuschauers. Eine solche CO2-neutrale Aufführung ist nämlich tatsächlich etwas karg, wenn man letztere ausgeschaltet lässt und sich nur auf den steigenden Schweiß-Pegel konzentriert. (Das Abgleiten in die Live-Hörspiel-Haltung wird übrigens durch das konstante Surren der Räder erleichtert, tAMtAM fühlt sich in eine fast meditative Trance versetzt, die erst mit dem finalen Einschalten des Saallichts beim Applaus jäh beendet ist.)
tAMtAM denkt bei nachfolgenden Theaterbesuchen erstmalig über die Energiebilanz der jeweiligen Aufführung nach.
ATMEN in der Schaubühne am Lehniner Platz.
Nächste Vorstellung: 9.12.2013.