Der Opernregisseur hat – verglichen mit dem Schauspielregisseur oder der jeweiligen -regisseuse – ein grauenhaftes Schicksal zu ertragen. Und zwar (abgesehen von unmotivierten Sängern, starrköpfigen Dirigenten, brummenden Bratschisten): Weniger Probenzeit. VIEL weniger Probenzeit.
tAMtAM kann durchaus verstehen, dass so ein zeitplangebeutelter Opernregisseur liebend gern ab und zu ins Sprechtheater hüpft. Da ist schließlich alles so viel weniger starr und vorbestimmt: Man kann sich zwischendurch auch mal umentscheiden, ohne dass Frau X in Ohnmacht fällt, weil sie ihre Arie ohne Kniebeugen nun ganz sicher nicht mehr singen kann oder der Chor meutert, weil er drei Proben für etwas anwesend war, was niemals in die Inszenierung kommt.
Regisseur Sebastian Baumgarten kommt ursprünglich vom Musiktheater und arbeitet – vielleicht aus besagten Gründen – in beiden Sparten. Wahnsinnig viel Zeit für die Proben hat er aber trotzdem nicht, bringt er doch an die fünf Produktionen im Jahr heraus. tAMtAM stellt sich das vor wie bei einem Koch, der fünf verschiedene Gerichte zur selben Zeit vorbereiten, kochen, servieren und essen muss. Da kann die Limette vom Zitronensorbet schon mal im Rindsgulasch landen.
Ein Jahr vor der Premiere seiner „Heiligen Johanna der Schlachthöfe“ im Schauspielhaus Zürich arbeitet Baumgarten in der Komischen Oper Berlin an Bizets „Carmen“. Besonderes Merkmal dieser Inszenierung ist eine spanische Flamenco-Tänzerin, die immer wieder lautstark schimpfend über die Bühne donnert. Große Teile des Publikums verstehen nur Bahnhof, sind aber fasziniert von dieser den Deutschen gemeinhin fremden Leidenschaft.
Am 13. Mai hockt tAMtAM beim Theatertreffen in Baumgartens „Johanna“ und hat plötzlich einen Carmen-Flashback. Auch hier rennt wieder eine lautstark schimpfende Dame über die Bühne, diesmal allerdings eine Lateinamerikanerin, Mitglied der Schwarzen Strohhüte. Manchmal sind Ideen so schön, dass man sie immer wieder bringen muss. Hier wirkt das auf tAMtAM allerdings wie die unfreiwillige Variante aus der Kochshow.
Vieles an Baumgartens Brecht-Inszenierung ist Assoziations-Theater. (Gute) Ideen wirbeln an den Zuschauern vorbei und verhalten sich zueinander wie Öl zu Wasser: Sie wollen nicht eins werden.
Diese Ideen sind (ein klitzekleiner Rundum-Überblick – selbstverständlich unvollständig):
- Überzeichnungen der Figuren, sowohl im Spiel als auch mittels Kostümierung/Maske: Da gibt es wilde Dialekte oder Sprachstörungen, die riesenhaften Kopfbedeckungen der Strohhut-Sekte, Kuhfell-Masken, sowie stereotype Darstellungen einzelner – ethnischer – Bevölkerungsgruppen,
- Videoeinspieler für alles, was mit Zahlen und abstrakteren gedanklichen Vorgängen zu tun hat (wer verkauft wie viel für was und schuldet dadurch wem noch…),
- ein wunderbarer Pianist, der Klassik wie Jazz in die Inszenierung einfließen lässt und gelegentlich auch irgendwie szenisch eingebunden wird,
- Wildwest-Anleihen in einigen Szenen (wahrscheinlich, weil dann einer der Vieh-Händler seinen tollen Kuhfell-Mantel anziehen kann),
- überästhetisierte, abstrakte szenische Vorgänge unter Aufbietung aller technischer Mittel („Bildertheater“),
- Anleihen an die Pop- und Digital-Kultur, sowohl szenisch als auch auf der Ebene des Bühnenbilds.
Klar, Brechts „Heilige Johanna“ ist ein Stück des epischen Theaters und letzteres lebt davon, dass der Zuschauer selbst sein Köpfchen einschaltet. Aber ist dies wirklich eine Begründung dafür, viele verschiedene Ideen wie Konfetti-Schnipsel auf die Bühne zu werfen?
tAMtAM ist am Ende des Stückes ziemlich ratlos. Warum darf man diesem Brecht angesichts zügelloser Finanzmärkte keinen klaren Aktualitäts-Bezug geben? An den starren Produktionsbedingungen kann es diesmal jedenfalls nicht gelegen haben.
PS: Zum Theatertreffen, so einfach wie noch nie: Am heutigen Samstag, 18.5., läuft Sebastian Baumgartens “Heilige Johanna der Schlachthöfe” um 16 Uhr im Public Viewing. Viel Spaß!