Wer Anlässe braucht, schafft sie sich: Am 5. September 2012 wäre Komponist John Cage 100 Jahre alt geworden, hätte ein Schlaganfall ihn nicht bereits 20 Jahre zuvor den Klauen des Diesseits entrissen. In der Berliner Staatsoper integriert man Cage (deshalb?) in die zweite Ausgabe von INFEKTION! (mit Ausrufezeichen), einem Festival für Neues Musiktheater.
Auf der Werkstatt-Bühne wie im großen Haus wird noch bis zum 15. Juli allerlei Kunstkram veranstaltet, der für Anhänger von klaren Harmoniegebäuden gelegentlich etwas astronautisch klingt.
tAMtAM hat sich schön brav die Ohren geputzt und ist am vergangenen Dienstag rein und wohlschwingend in das Abendprogramm der Werkstatt geschwebt.
(Es folgen zusammengeschusterte Eindrücke – absolut unverfälscht, weil live getwittert und geknipst. Eine nachträglich Reflexion/Einordnung/Systematisierung hat bewusst nicht stattgefunden.)
Dieser erste Teil der Ansammlung von Cage-Fragmenten findet vor dem Theater statt. Was war da los?
Das Stück 4’33 von John Cage (uraufgeführt 1952) besteht aus drei Sätzen, die jeweils mit der Vortragsbezeichnung TACET (Stille) überschrieben sind. Es erklingt folglich während der gesamten Spielzeit kein einziger Ton. Deshalb kann dieses wunderbare Stück Musikgeschichte auch mit einer beliebigen Besetzung aufgeführt werden – hört sowieso keiner.
Vor dem Schillertheater beschränkt man sich auf einen Pianisten und…
Vermutlich nicht, denn alsbald…
Nachdem der Pianist seinen kleinen, iPhone-bespickten Gefährten schutzlos zurückgelassen hat, schwappt auch die gemeine Masse nach und nach ins Innere des Gebäudes. Freyer umkreist inzwischen zusammen mit Opernintendant Jürgen Flimm die bunten Podeste, die überall im Bühnenraum verteilt stehen. Die Zuschauer sollen es ihnen nachtun, wobei “die Podeste auch bespielt werden”. Die nächsten zwei Stunden gestalten sich etwa folgendermaßen:
Bei Europera 4 wird es zwar leerer und (zumindest gelegentlich) leiser, das Prinzip ist jedoch ähnlich: Man singt, auf bestimmten Nummern stehend (Bodenbeläge), eine variable Abfolge von Musik, die man selbst kennt – oder vielleicht auch überhaupt nicht?
tAMtAM schlackern schon gewaltig die Ohren von den vielen Überlagerungen. Das haben offenbar auch die Macher bei der Planung des Programms bedacht:
Kann man sich nicht vorstellen? tAMtAM hat vorgesorgt und flugs die Kamera gezückt:
Wohlgemerkt: Das waren keine Statisten, die da auf dem Rasen geschwankt haben, sondern wackere Zuschauer. Deshalb folgt nun eine kleine Einzelstudie dieses ambitionierten Bewegungshandwerks.
Was zum Kuckuck aber ist daran nun Cage? Und wieso ist das Kunst? tAMtAM ist ratlos – bis da ein kleiner Wink von oben kommt. Oder. Nun ja. Genau genommen eigentlich von Westen auf dem Gehweg entlang:
Karoman sieht sich mehr und mehr als künstlerischen Gegenpol zum gesammelten Kunstgenießertum, das dort so hingebungsvoll vor der Oper turnt. Kunst kommt schließlich vom Widerstand. Und je mehr Gegenwind Karoman ins Gesicht schlägt, desto überzeugter widmet er sich seiner einsamen Mission.
Definitiv nicht inszeniert, nicht geplant, ja vermutlich nicht einmal im Entferntesten überhaupt in Erwägung gezogen. Aber vielleicht ist gerade das der einzig “wirkliche” Cage an diesem Abend – direkt aus dem Leben, ohne vorheriges Verbeißen in intellektuelle Details.
Als Karoman schließlich von einigen Anzugträgern nahegelegt wird, seine persönliche Qi Gong-Auffassung einige Straßenecken weiter auszuleben, streicht auch tAMtAM die Segel und verlässt den (Kunst-)Käfig.
Übrigens: Das tolle tAMtAM-Sticker-Suchspiel – ab jetzt in vielen Berliner Bezirken!