Langweilige Leute I: Rico Grinde

Wenn Rico Grinde in seine Wohnung kommt, tritt er gewöhnlich auf absolut nichts. Keinen Sand von Sportschuhen, denn er verabscheut Sport. Keine einzige, noch so unscheinbare Staubfluse, denn seine Wohnung verfügt über eine automatische Staubsaugeranlage. Keinen Sabber vom Mops, keine indonesische Riesenspinne. Allein die Diele knarzt diskret unter der Last der Aktentasche, die er immer an dieselbe Stelle stellt. (Nämlich exakt dorthin, wo die Eingangstür sie nicht mehr erwischt und ihr anderes Ende mit dem Badezimmertürrahmen abschließt.) 

Vielleicht ist das der Grund, weshalb Rico tAMtAMs Aufruf gefolgt ist und sich als erster langweiliger Leut outet. 

 

tAMtAM berlin: Rico, du würdest dich also als langweilig bezeichnen.

Rico Grinde: Naja… Ja. Also… Also zumindest seit ich berufstätig bin.

tAMtAM berlin: Woran machst du das fest?

Rico Grinde: Ich habe das Gefühl, dass mein Leben aus Bausteinen besteht, die jeden Tag dasselbe Bild ergeben. Ja. Also… Und diese Bausteine kenne ich alle schon.

tAMtAM berlin: Dir fehlt das Unerwartete?

Rico Grinde: Das ist es ja. Eigentlich fehlt mir überhaupt nichts. Deshalb denke ich ja auch, dass ich langweilig bin.

tAMtAM berlin: Langweilig und glücklich damit?

Rico Grinde: Ja…

 

tAMtAM schlurft hinter Rico in dessen Küche. (Zweite Tür links, hinter dem Bastvorhang.) Rico reinigt seine Brotdose („Donnerstags gibt es in der Kantine immer Eintopf. Ich hasse Eintopf.“) und kleckert dabei einige Krümel neben den Mülleimer. Sofort erwacht die Staubsaugeranlage und schlürft unter lautem Getöse ihr unverhofftes Mahl in schmale Spalten unter der Fußbodenleiste. Langsam wird klar, weshalb Rico sich über den Boden schiebt, anstatt die Füße beim Gehen anzuheben: Man muss in dieser Wohnung besorgt um alles sein, was nicht durch das eigene (Körper-)Gewicht auf der Erde gehalten wird. tAMtAM beglückwünscht sich still dazu, Ricos Schlurfgang intuitiv nachgeahmt zu haben und daher noch über seine vollständige Fußbekleidung zu verfügen.

Rico hat Onomastik (Namenskunde) in Leipzig studiert. Danach kam er zurück nach Berlin und arbeitet nun für ein Online-Portal, das werdende Eltern in Krisensituationen der Namensfindung betreut.

 

tAMtAM berlin: Und was machst du da genau?

Rico Grinde: Tja, also. Ja… Im Grunde berate ich Paare, deren Wahl eines bestimmten Namens für ihr Kind von den Behörden nicht akzeptiert wird. Oder bei denen es Streitigkeiten um den Namen gibt, zum Beispiel weil alle männlichen Kinder eines Familienteils immer Egon hießen und der andere das unzumutbar findet.

tAMtAM berlin: Klingt doch ganz interessant!

Rico Grinde: Der Job hat ja nichts mit mir zu tun.

 

Rico bereitet nun sein Abendessen zu. Ein Vorgang, der jeden Tag gleich abläuft, wie er betont: Er entnimmt dem Kühlschrank einen TetraPak Suppe („Ich wechsle je nach Saison zwischen den Geschmacksrichtungen Lauchcreme, Kartoffel und Tomate-Mallorca.“) und gießt diese in eine Tasse, auf der ein rosa Panther abgebildet ist. tAMtAM traut seinen Augen kaum: Die Suppe ist blau.

 

tAMtAM berlin: Vielleicht solltest du nochmal auf das Verfallsdatum schauen?

Rico Grinde: Nein nein, die gehört so. Ich bestelle sie im Internet, das ist der Farbton „Schlumpf“.

tAMtAM berlin: Ist ja nicht die Möglichkeit.

Rico Grinde: Als ich klein war, durfte ich nie Lebensmittel mit künstlichen Farbstoffen zu mir nehmen. Ich habe gespürt, dass mir dadurch eine wichtige Erfahrung versagt wurde, die ich keinesfalls missen wollte.

tAMtAM berlin: Und deshalb ernährst du dich von Schlumpf-Suppe?

Rico Grinde: Das ist mein persönlicher Weg zur Freiheit. Einen anderen kenne ich nicht.

 

tAMtAM probiert den sommerlichen Kartoffel-Cocktail, der bei den Teletubbies sicher der letzte Schrei gewesen wäre, und muss sich noch Stunden später sehr zusammenreißen, um nicht argwöhnisch auf Zehen, Fingernägel und andere Gliedmaßen zu schielen, die blau anlaufen könnten.

Das also versteht Rico Grinde unter Langeweile.

 

Auch langweilig? Melde dich hier für ein Porträt! tAMtAM kommt bestimmt.

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